8
Die Steppschuhe meiner Tochter hatte ich brav abgeliefert. Als ich danach an meinen Schreibtisch zurückkehrte, starrte ein Zettel mich an. Darauf stand in Freds kleiner, fahriger Handschrift ein Name, gefolgt von den Worten Ellen Leeds’ Anwalt. Das letzte Wort war unterstrichen.
Ich warf einen Blick aufs Telefon. Das AB-Licht blinkte nicht. Aus irgendeinem Grund hatte der Anwalt mich übergangen und sich direkt an Fred gewandt.
Kaum hatte ich sein Büro betreten, sagte er: »Wie’s aussieht, haben Sie ein kleines Problem, Dunbar. Der Typ rief vor einer Weile an und meinte, mit ihr bräuchten wir gar nicht mehr zu reden. Er kreischte etwas von einer Zivilklage, nachdem wir ›den wahren Täter gefangen haben‹. Warum haben Sie mir nicht gesagt, dass Sie die Mutter in Verdacht haben?«
Auf mein momentanes Schweigen sagte er nur: »Reden Sie.«
Ich berichtete ihm, was Mrs. Paulsen gesagt hatte, und erläuterte dann die Zwiespältigkeit von Ellen Leeds’ Alibi. »Der Ex hatte ’ne ziemlich rote Birne, als er von hier wegging, um zu ihrer Wohnung zu fahren. Er hat mich runtergeputzt und ist dann rausgestürmt. Die beiden reden noch miteinander, und ich schätze, er hat ihr einfach gesteckt, dass ich klang, als würde ich sie verdächtigen.«
»Vielleicht hat er sich ja dieselbe Frage gestellt«, meinte Fred.
»Das glaube ich nicht. Er hat sie ziemlich heftig verteidigt.« Ich setzte mich. »Aber wissen Sie was? Bis vor kurzem war ich fast so weit, ihr die Handschellen anzulegen. Aber jetzt habe ich wieder meine Zweifel. Irgendwas stimmt hier nicht.«
»Aber was? Sie haben eine Zeugin, die den Jungen in das Auto der Mutter hat einsteigen sehen, und es gibt Probleme mit ihren Angaben, wo sie war, als es passierte.«
»Ja, ich weiß. Aber für mich ist sie einfach nicht der Typ dafür.«
»Ach, kommen Sie, Lany. Nüchterne Betrachtung der Beweislage. So treffen wir hier Entscheidungen, wissen Sie noch?«
»Ich weiß, ich weiß. Aber die alte Dame – ich weiß einfach nicht so recht, was ich mit ihren Angaben anfangen soll.«
»Ist sie senil?«
»Nein, eigentlich nicht. Sie führte mit mir ein vernünftiges Gespräch und war in dem Moment sehr klar. Es sind die anderen Momente, die ein Problem werden könnten. Nette ältere Dame, vielleicht ein bisschen neugierig, wirkt aber sehr glaubwürdig. Eine Zeugin, wie man sie sich nur wünschen kann, bis auf das Alter. Vor Gericht könnte sie zum Kanonenfutter für den Verteidiger werden.«
»Wenn wir je so weit kommen.«
Ich konnte ihn fast denken hören. Bei dem Tempo, das Sie vorlegen, ist sie bis dahin eh schon tot.
Er sagte: »Nimmt sie irgendwelche Medikamente?«
»Ich habe sie nicht gefragt.«
»Warum nicht?«
»Ich versuche, eine Vertrauensbeziehung zu ihr aufzubauen. Und so etwas fragt man eine ältere Dame nicht gleich an der Tür. Ich kann mir vorstellen, dass sie das als unhöflich betrachten würde. Sie mag mich, das glaube ich zumindest, aber ich weiß nicht so recht, inwieweit sie mir traut.«
»Sie haben die Erlaubnis der Leute, gewissermaßen als deren Angestellte, unhöflich zu sein. Genau genommen verlässt der Steuerzahler sich darauf, dass Sie sich in seinem Namen so verhalten. Rufen Sie sie an, und stellen Sie ihr die gleichen Fragen, die ein Verteidiger stellen würde.«
»Wenn Sie was nimmt, dann habe ich nichts mehr außer der Jacke. In welche Richtung soll ich dann weitermachen?«
»Keine Ahnung. Ich bin nur Kontrolleur. Ich delegiere die Probleme an Sie, die Detectives.«
»Dann üben Sie Ihre Kontrollfunktion aus. Sagen Sie mir, was ich tun soll.«
Es war, als hätte er nur auf dieses Stichwort gewartet. »Na ja, vielleicht habe ich etwas für Sie, das Ihnen einen Anstoß gibt.« Er drehte sich mit seinem Stuhl, nahm einen Pappkarton von dem Tisch hinter seinem Schreibtisch, drehte sich wieder zurück und stellte den Karton vor mich hin. Auf der mir zugewandten Seite des Kartons stand der Name Donnolly.
Die Dudelsäcke bei seiner Beerdigung dröhnten mir noch immer im Kopf. »O Gott.«
In den letzten Wochen seines Lebens, bevor sein Herz platzte, wirkte Terry Donnolly gestresst und besorgt und gelegentlich deprimiert; er redete unaufhörlich davon, alles hinzuschmeißen. Ich ertrage diese Mistkerle einfach nicht mehr war alles, was er sagte, wenn einer von uns ihn fragte, warum.
»Seine letzten zwei Fälle. Die stagnieren im Augenblick. Ich habe sie mir heute Nachmittag, als Sie unterwegs waren, noch einmal angesehen. Die Sache, die mich auf Sie brachte – und die ihn so frustrierte –, ist die, dass in beiden Fällen der erste Verdächtige ein Vertrauter war, und zwar ausgehend von scheinbar vernünftigen Aussagen von Augenzeugen. Wie in Ihrem Fall jetzt. Aber die anderen Indizien standen in direktem Widerspruch zu den Aussagen der Zeugen, und Donnolly kam ziemlich schnell zu dem Schluss, dass diese Vertrauten nichts damit zu tun hatten. Er wusste nicht, wie er in den beiden Fällen weitermachen sollte. Ein Elternteil – über seinen Tod informiert – ruft immer wieder an und verlangt, dass der Fall einem anderen Detective zugeteilt wird.«
Ich legte die Hand auf den Karton. Pandora, Pandora, Pandora, schrie er, mach mich auf, mach mich auf. Fred schien es nicht zu hören. Der Karton wurde heiß unter meiner Hand, als hätte meine Berührung eine chemische Reaktion ausgelöst. Ich zog die Hand weg.
Fred sah es und runzelte die Stirn. »Ich habe all das Zeug zusammenstellen lassen, weil ich dachte, es könnte Ihnen weiterhelfen. Also sollten Sie es sich besser anschauen.«
Was bedeutete, dass die Fälle neu zugeteilt worden waren.
Unsere Abteilung ist ziemlich groß. Ich habe genug Schwierigkeiten, bei meinen eigenen Fällen auf dem Laufenden zu bleiben, geschweige denn bei denen der anderen. Und ich wusste, dass Donnolly zwei Vermisste hatte, aber die Details waren mir völlig fremd. Die Akten waren ziemlich umfangreich, dem Gewicht des Kartons nach zu urteilen. In meiner unteren Schublade lagen zwei Faltordner von früheren Fällen, die beide solide gelöst waren und ein gutes Karma hatten; wenn ich Donnollys Fälle in diese Ordner steckte, würde vielleicht ein wenig von dem Glück abfärben und etwas Schwung in die ganze Sache bringen.
Die Namen der Opfer standen dick auf der Vorderseite und dem Rücken von Connollys dicken Ordnern. Es war mittlerweile zu spät, um sich wirklich in sie zu vertiefen, aber ich las genug von jedem, um einen ungefähren Eindruck des Vorgefallenen zu bekommen. Im ersten Fall ging es um das Verschwinden von Lawrence Wilder, männlicher Weißer, dreizehn Jahre alt, einsachtundfünfzig groß, zierliche Statur. Hellbraune, fast blonde Haare, blaue Augen, viele Sommersprossen. Wurde das letzte Mal vor ungefähr einem Jahr gesehen, als er in das Fahrzeug des Bruders seiner Mutter einstieg, das, nach Angaben von drei Zeugen in einem Straßencafé, angeblich auch von diesem gefahren wurde. Das Problem war nur, der Onkel hatte ein unwiderlegbares Alibi – er war Feuerwehrmann und zu der Zeit im Dienst, bestätigt von Stechkarte, Kollegen und so weiter. Es gab keine wirklichen materiellen Beweise, außer einigen winzigen Spuren im Auto des Onkels, in dem wir Fasern von Kleidung gefunden hatten, die nachweislich Larry gehörte. Aber das hatte nichts zu bedeuten – der Junge hatte Dutzende Male in diesem Auto gesessen. Da die Familie des Jungen den Onkel für unschuldig hielt, hatte sie eine Belohnung für Informationen, die zu seinem Wiederfinden führten, ausgesetzt. Tausende Anrufer hatten sich gemeldet – wie immer, wenn es Geld zu holen gibt –, aber daraus hatten sich keine wirklich brauchbaren Spuren entwickelt.
Der Großteil des Papiers schien das Resultat von Donnollys Gesprächen mit den Zeugen, mit Familie und Freunden, Schulkameraden, Lehrern, Trainern, zu sein – er hatte nichts ausgelassen. Einige der Leute waren mehrmals befragt worden, vielleicht zur Klärung, vielleicht aber auch, weil Donnolly weiter an den Fällen arbeiten wollte. Das machen wir alle, wenn wir nicht wissen, wie wir weitermachen sollen – wir kehren zu den früheren Zeugen zurück. Manchmal haben wir Glück, aber meistens bringt uns das nicht mehr als das Gefühl, etwas getan zu haben und den Fall nicht aus den Augen zu verlieren. Es ist schwer loszulassen, vor allem, wenn man einen Fall unbedingt lösen will und es einfach nicht passiert.
Sogar bei diesem flüchtigen Durchblättern konnte ich Terry Donnollys Frustration spüren. Er war ein sehr guter Berichteschreiber gewesen, alles war klar und prägnant und, so weit möglich, gut dokumentiert. Aber die Berichte waren gefärbt von der bitteren Wahrheit, dass das alles nichts brachte.
Junge Nummer zwei in Donnollys Karton hieß Jared McKenzie. Er machte seinen ungeklärten Abgang etwa sechs Monate vor dem Wilder-Jungen. Als ich den Vermisstenbericht las, stutzte ich angesichts der Parallelen – ich dachte, dass vielleicht etwas aus der Wilder-Akte hier hineingeraten war. Seine körperlichen Merkmale waren erstaunlich ähnlich, mit der Ausnahme, dass Jareds Haare eher rot als blond waren. Er wurde zum letzen Mal beim Verlassen eines Fußballplatzes zusammen mit seinem Trainer gesehen, ein alter Freund der Familie, der viel Zeit mit den McKenzies verbrachte und Jared oft nach Hause fuhr. Der Trainer behauptete aber, am Tag des Verschwindens nach dem Training in seine Steuerkanzlei gegangen zu sein, um Unterlagen für ein späteres Treffen mit einem Klienten zu holen. Eine andere Mutter gab an, gesehen zu haben, wie die beiden im Auto des Trainers wegfuhren, und konnte sich auch noch an die exakte Zeit erinnern, weil sie kurz davor ihr Handy, das die Uhrzeit anzeigte, benutzt hatte. Aber der Wachposten an der Arbeitsstätte des Trainers bestätigte dessen Ankunft genau fünf Minuten, nachdem diese andere Mutter ihn gesehen haben wollte. Die Fahrt vom Fußballplatz bis zum Büro des Trainers dauerte aber mindestens zehn Minuten. Unmöglich.
Kein Wunder, dass Terry Donnolly einen Herzinfarkt gehabt hatte. Was sollte er mit solchem Zeug denn anfangen?
Und was sollte ich damit anfangen?
Drei Fälle, bei denen Vertraute die ursprünglichen Verdächtigen waren und die Opfer sich auf schockierende Weise ähnelten – alles weiße Jungen von schlanker Statur. In allen drei Fällen gab es relativ wenige Indizien, was bedeutete, dass die drei Täter sehr vorsichtig gewesen waren.
Oder der eine Täter.
Ich sagte Fred, was ich dachte, und bat ihn, mir jemanden zu geben, der mir beim Abgleich der Daten helfen konnte.
»Sie glauben, wir haben es mit einem Serienentführer zu tun?«
»Na ja, es ist schwierig, es nicht zu glauben.«
»Scheint mir noch ein bisschen früh für eine solche Hypothese.«
Der Todeskuss, so zärtlich hingehaucht.
Jetzt hatte ich die undankbare Aufgabe, Leute zu befragen, die bereits einen schrecklichen Verlust erlitten hatten, mit dem Ziel, ihre alten Wunden noch einmal aufzureißen. Donnollys Berichte waren hervorragend, doch ich wollte trotzdem noch einmal persönlich mit diesen Leuten sprechen.
Zuerst rief ich Nancy Wilder an. Sie war überrascht, als sie hörte, dass Terry Donnolly gestorben war, was mir ersparte, Fred fragen zu müssen, welche Familie auf eine Neuzuteilung gedrängt hatte, ein Detail, das zu besprechen ich vergessen hatte. »Ich dachte mir, dass er bei dem Fall einfach nicht weiterkommt und wir deshalb einige Wochen lang von ihm nichts hörten«, entgegnete sie, nachdem ich es ihr gesagt hatte. »Es tut mir sehr Leid, dass er gestorben ist. Hatte er Familie?«
»Eine Frau und zwei Kinder.«
»Oh, wie schrecklich.«
»Wir sind alle ziemlich traurig deswegen. Er hinterlässt eine große Lücke.«
»Ich muss sagen, er war ein sehr aufmerksamer Detective. Sehr gründlich. Ich war sehr dankbar dafür.« Sie seufzte und schwieg einen Augenblick. »O Gott«, sagte sie schließlich. »Ich bin wirklich bestürzt. Werden Sie den Fall jetzt übernehmen?«
»Ich habe die Aufgabe, einige Sachen abzuschließen. Terrys Fälle müssen geprüft werden, damit man sie entweder schließen oder für weitere Ermittlungen neu zuteilen kann. Ich sammle Informationen, damit diese Entscheidungen getroffen werden können.«
Das war nur die halbe Wahrheit, wobei ich allerdings hoffte, dass sie für sie überzeugender klang als für mich. »Ich möchte nur gern selber hören, was Sie zu sagen haben. Detective Donnolly war sehr gut darin, alles genau zu dokumentieren, aber es ist einfach etwas anderes, wenn man mit den Familien selber spricht. Ich entschuldige mich, dass ich alte Wunden noch einmal aufreiße, und ich hoffe, Sie verstehen, dass dies nur zum Besten des Falles dient.«
»Nun, das verstehe ich schon«, sagte Mrs. Wilder. »Und ich danke Ihnen für Ihr Bedauern. Aber denken Sie sich nichts – die Wunde ist noch nicht verheilt, Sie können sie also gar nicht neu aufreißen. Sie hat sich nie geschlossen, zumindest bei mir nicht. Larrys Vater ist inzwischen so weit aufzugeben, einfach anzunehmen, dass Larry irgendwo tot liegt und wir ihn nie finden. Aber ich bin noch nicht an diesem Punkt angelangt.«
Larrys Vater hatte wahrscheinlich Recht, aber es ist grausam, einem Menschen die Hoffnung zu nehmen, wenn er sonst nichts mehr hat. Es war leider nur allzu typisch, dass ein Ehepaar nach dem Verschwinden eines Kindes Schwierigkeiten durchmachen muss. Es gibt immer Schuldzuweisungen auf der einen oder der anderen Seite, auch wenn diese nie offen ausgesprochen werden.
»Mrs. Wilder, ich würde Sie gerne zu Hause besuchen, wenn das keine zu große Belästigung für Sie ist.«
Ich sollte sie am folgenden Tag besuchen. Mit der Familie McKenzie konnte ich eine ähnliche Vereinbarung treffen, Jareds Mutter war allerdings viel weniger höflich. Sie schien es für schrecklich unpassend zu halten, dass Donnolly aus lauter Frustration tot umgefallen war, und zu denken, dass es ihm irgendwie recht geschehen sei und er um ihretwillen Himmel und Hölle hätte in Bewegung setzen müssen. Ich gebe zu, dass einige von uns Eigentumsdelikte als »unlösbar« klassifizieren, nur um sie loszuwerden, aber Terry riss sich immer den Arsch auf, vor allem, wenn es um Kinder ging. Sein Stress war selbst gemacht. Und am Ende bezahlte er dafür.
Ich stellte einige diskrete Nachforschungen in anderen Abteilungen an und bat um Zusammenfassungen stockender Fälle, bei denen es um verschwundene Kinder ging. Dann kopierte ich Terry Donnollys sämtliche Befragungsprotokolle und steckte sie in einen Ordner. Evan wartete am Bordstein, als ich ihn abholte. Jeff Samuels, sein bester Freund und Schatten, stand neben ihm.
Er warf seinen Schulranzen und die Sporttasche auf die Ladefläche des Transporters und setzte sich dann vorne neben mich, nichts als Beine und Arme und glatte, strohblonde Haare. Wie sein Vater.
»War das Training heute früher aus?«
»Nein. Du bist zu spät dran.«
Ich schaute auf die Uhr. Er hatte Recht. »Tut mir Leid, Evan, ich schätze, ich brauche mal wieder eine neue Batterie.«
Ich beugte mich zu ihm und hoffte gegen besseres Wissen, dass er seine Pubertät einen Augenblick vergessen und mir einen Kuss auf die Wange drücken würde. Er verdrehte zwar die Augen, tat es aber.
»Also komm, das war doch nicht so schlimm, oder? Alte Damen macht es glücklich, ab und zu einen Kuss zu bekommen.«
»Mom, lass das … du bist ja nicht wirklich alt.«
Ich hätte auch ohne die Betonung auf dem wirklich ganz gut leben können.
»Was gibt’s zum Abendessen?«
»Keine Ahnung. Das überlege ich mir, wenn wir nach Hause kommen.«
»Kann Jeff bleiben?«
»Natürlich. Du magst doch ein Geheimgericht, oder, Jeff?«
»Ja, Mrs. Dunbar.«
Frannie und Julia waren in der Tanzschule, wohin Kevin Julia gebracht hatte, so dass ich sie nicht bei ihm zu Hause abholen musste. Inzwischen würde eine Frau bei ihm sein, eine aus der endlosen Schlange, die er offensichtlich unterhielt. Mir war es egal, dass er seine Frauen ständig wechselte, aber ich wollte nicht, dass die Kinder es mitbekamen. Bis jetzt hatte er sich sehr anständig verhalten, zumindest in dieser Hinsicht.
Ich weiß nicht, ob Frannie meiner Mutter noch ähnlicher sehen könnte, als sie es tut; bei Julia dagegen war überhaupt keine Familienähnlichkeit erkennbar. Beide beugten sich unaufgefordert über die Rückenlehne und küssten mich, bevor sie sich auf die Rückbank setzten und sich anschnallten. Ich grinste ihren Bruder triumphierend an.
»Sie sind Mädchen«, protestierte er. »Die müssen ihre Mutter küssen.«
»Was gibt’s zum Abendessen?«, fragte Frannie.
»Ja, was?«, stimmte ihre Schwester mit ein.
»Was Jeff will.«
Sofort bestürmten sie ihn mit Vorschlägen. Ich ließ mich schließlich überreden zu Spaghetti mit Tomatensoße und grünen Bohnen, beides aus der Dose, das klassische Vier-Geräte-Gericht: Dosenöffner, Mikrowelle, Abfalleimer und Geschirrspüler. Jeff ging dann zurück in die Wohnung seiner Eltern im selben Block, und wir anderen machten unsere Hausarbeiten am Küchentisch, ich mit eingeschlossen. Ich musste wohl eingenickt sein, denn als ich wieder aufwachte, stand Julia neben mir und versuchte, den Donnolly-Bericht zu lesen, über dem ich saß. Sie legte den Finger auf ein langes Wort und schaute mich mit unschuldiger Neugier an.
Ich las es ihr vor, Silbe für Silbe, wie man es mir beigebracht hatte. »Haupt-ver-däch-ti-ger«, sagte ich.
Sie wiederholte es langsam. »Sind das die Bösen?«
Es geht doch nichts über Kontext.
Als ich am nächsten Morgen nach zehn Stunden Schlaf ins Büro kam, lag auf meinem Schreibtisch ein beachtlicher Stapel Faxe. Auf dem obersten klebte ein gelber Zettel von Fred. Es stand nur Hmmm darauf.
Alle wurden offiziell noch als aktive Fälle geführt, in Wirklichkeit aber ruhten sie, obwohl das keiner offiziell zugeben würde. Einer war mehr als drei Jahre alt – nach so langer Zeit ist ein Fall dieser Art praktisch unlösbar, außer von irgendwoher tauchen überraschende neue Hinweise auf. Zeugen ziehen weg, ihre Erinnerungen an das Verbrechen werden schwächer. Keiner dieser Verschwindensfälle war besonders entsetzlich, zumindest nicht an der Oberfläche. Ich sah das Auto anhalten und den jungen einsteigen, und das war das letzte Mal, dass ich ihn (oder den fraglichen Vertrauten) an diesem Tag sah.
Sackgasse um Sackgasse, bis auf eine Überraschung; der Fall war »gelöst« worden. Ein zwölfjähriger Junge war entführt worden, angeblich vom Freund seiner Mutter, einem gewissen Jesse Garamond, der schon einmal wegen Kindsmissbrauchs verurteilt worden war, wobei die Details dieses früheren Falls in dem Überblick nicht enthalten waren. Die Leiche des verschwundenen Jungen wurde nie gefunden, aber Garamond wurde dennoch des Verbrechens angeklagt und verurteilt, und zwar ausschließlich aufgrund der Aussage eines Augenzeugen, eines Priesters, der die beiden zusammen gesehen haben wollte, eine Stunde, bevor die Mutter bei der Polizei anrief und ihn »vermisst« meldete, weil er nicht zum vereinbarten Zeitpunkt nach Hause gekommen war.
Das Verbrechen war eine Verletzung von Garamonds Bewährungsauflagen gewesen, er kam also sofort wieder ins Gefängnis, um den Rest seiner Erststrafe abzusitzen. Die neue Strafe wurde angehängt; zur Zeit seiner Entlassung würde er wahrscheinlich keinen einzigen Zahn mehr haben.
Der Fall faszinierte mich aus zwei Gründen: erstens, weil es ungewöhnlich ist, dass man ohne Leiche eine Verurteilung bekommt, und zweitens, weil es Spence Frazee war, der den Kerl verhört hatte.
Ich war leicht überrascht, Spence an seinem Schreibtisch zu finden, denn er sitzt nicht gern dort. Es ist kein See, und Angelruten sind nicht gestattet. Wenn er gezwungen ist, in seinem Verschlag zu arbeiten, wird er nervös und launisch, und keiner hält es lange in seiner Nähe aus. Ansonsten ist er ein wirklich netter Kerl. Ich denke, er würde lieber immer noch Streife fahren, wenn der Unterschied in der Bezahlung nicht so krass wäre. Wir alle verdienen hinter unseren Schreibtischen viel mehr als damals hinter dem Steuer eines Streifenwagens, und wir kommen bei weitem nicht in so engen Kontakt mit den Mistkerlen dieser Welt wie in unserer Zeit auf der Straße. Irgendwann wird das wichtig, vor allem für diejenigen von uns, die Kinder haben. Ich hatte oft das Gefühl, ich müsste meine Uniform und mich selbst entlausen, bevor ich nach Hause ging, um nichts mitzuschleppen.
Ich legte ihm das Fax auf den Tisch.
»Was ist das?«, fragte er.
»Der Garamond-Fall.«
»Ach«, sagte er nur.
»Ich hatte nach offenen Fällen gefragt.«
»Na ja …«
Spence hatte Jesse Garamond sehr professionell bearbeitet. Er hatte sich sein Vertrauen erarbeitet, eine Beziehung aufgebaut, ein Gefühl der Verantwortlichkeit erzeugt, hatte all die Tricks angewendet, die man uns beigebracht hatte, um einen Verdächtigen dazu zu bringen, offen zu sprechen. Als er mit Garamond fertig war, meinte der, er würde gern gestehen, würde nichts lieber tun, als Spence zu sagen, dass er den Sohn seiner Freundin entführt und ermordet habe.
»Das Problem ist nur«, sagte Garamond anschließend zu ihm, »ich hab es nicht getan. He, wenn ich Ihnen wahrheitsgemäß sagen könnte, dass ich es getan habe, dann würde ich es sagen. Aber ich hab’s nicht getan.«
Natürlich sagt das jeder. Aber Garamond ging noch einen Schritt weiter und verstärkte seine Glaubwürdigkeit mit dem Eingeständnis: »Diese erste Geschichte gebe ich zu. Die, für die ich verknackt wurde. Aber die Sache jetzt habe ich nicht getan. Da draußen läuft ein Perverser herum, den Sie nicht kriegen werden, weil Sie unbedingt wollen, dass ich es bin, und weil Sie alles dafür tun, damit man es mir anhängt. Und so wird ein anderer kleiner Junge leiden müssen, weil Sie den Falschen haben.«
Er hatte kein Alibi, weil er zu der Zeit, als die Entführung angeblich stattfand, seine Freundin – die Mutter des vermissten Jungen – mit der Frau seines Bruders betrog.
»He, was zum Teufel soll ich denn jetzt tun? Ich liebe meinen Bruder. Ich will nicht, dass seine Kinder wegen dieser Scheiße leiden müssen. Könnte ja sein, dass er sie verlässt, wenn er herausfindet, dass ich sie gebumst habe. Dafür will ich nicht verantwortlich sein. Auf keinen Fall. Lieber gehe ich in den Knast.«
Ehre unter Dieben, oder so etwas Ähnliches – Ehre unter Ehebrechern vielleicht. Aber auch das war eine Ausrede, die schon oft benutzt worden war – ich habe ein tolles Alibi, aber ich kann es nicht benutzen, weil jemand verletzt oder kompromittiert werden könnte –, und deshalb leicht abzutun. Normalerweise gähnen und lachen wir, wenn wir sie hören.
Aber Spence lachte damals nicht.
»Ich weiß auch nicht, Lany, aber irgendwas stimmte da nicht. Das ist nicht der Kerl für ein solches Verbrechen. Ist einfach nicht sein Stil. Er ist ein schlimmer Finger, aber kein Perverser.«
Mit dem Versprechen der Vertraulichkeit brachte Spence die Frau des Bruders dazu, die Geschichte zu bestätigen. Sie war aber nicht bereit, vor Gericht für ihren Schwager auszusagen und gestattete uns auch nicht, mit ihrem Gatten darüber zu sprechen. So viel zu ehelicher Treue.
Spence gab mir das Fax zurück. »Lass uns mal frische Luft schnappen«, sagte er.
Das Bezirksgefängnis, das Los Angeles County Correctional Institution, befindet sich in Lancaster, eine Fahrt von etwa eineinhalb Stunden durch das Vorgebirge. Ungefähr sechzig Meilen, aber die Hälfte der Zeit braucht man für die ersten zehn Meilen. Die zweite Hälfte der Fahrt war ziemlich malerisch, aber zuerst mussten wir durch einen Wald aus Reklametafeln hindurch. Manchmal denke ich, Los Angeles ist ein Reklametafel-Museum mit wechselnden Ausstellungsstücken. Kaum hat man sich an das letzte, riesige, abscheuliche Plakat gewöhnt, hängt ein neues an seinem Platz.
Spence fuhr einen zivilen Einsatzwagen, ich saß auf dem Beifahrersitz. Das Funkgerät lief, und ich versuchte, das verzerrte Geplapper zu verstehen. Ich war völlig auf die krächzenden Meldungen konzentriert, als mir ein neues Plakat ins Auge stach. Ein schwarzer Hintergrund und ein kurzes silbernes Schwert mit juwelenbesetztem Heft waren die wichtigsten Gestaltungselemente. In pseudomittelalterlicher Schrift prangte darauf der Satz: Sie essen dort kleine Kinder. Eine rote Flüssigkeit – wahrscheinlich einige Liter Kunstblut – tropfte von dem Schriftzug.
»Schau dir das an«, sagte ich zu Spence. »Verdammt. Jetzt gibt es sogar schon Spezialeffekte für Plakate.«
Spence spähte hinter dem Lenkrad hervor. »O ja, das habe ich vor ein paar Tagen schon mal gesehen. Genau das, was wir brauchen, noch so ’nen perversen Film, den dann irgendwelche Trittbrettfahrer in ihrer Freizeit nachspielen.«
Ich gebe es nur ungern zu, aber so etwas hat mich schon immer fasziniert. Es gab eine Zeit, bevor es Mode wurde, die in solchen Filmen dargestellten Verbrechen nachzuahmen, da war ich wirklich eine Art Horror-Fan. Ich kann nicht erklären, warum ich mir gern Schauer über den Rücken jagen lasse, aber so ist es. Ich nahm den Blick nicht von dem Plakat, während wir durch den nachmittäglichen Verkehr fuhren, der so dicht war, dass ich es mir wirklich gründlich anschauen konnte.
»Das rote Zeug tropft anscheinend aus einem Schlauch in einen Eimer oder so was dort unten, wo die Strahler befestigt sind. Wird wohl auch ’ne Pumpe geben, die das Zeug wieder hochschickt.«
Spence schüttelte nur den Kopf und seufzte.
Unsere Waffen mussten wir bei einem Posten am Gefängnistor abgeben; ich tue das nicht gerne, vor allem nicht, wenn ich in ein Gebäude gehe, von dem ich weiß, dass es voller Krimineller ist. Das Ding wiegt an meiner Hüfte eine Tonne, aber es ist eine gewisse Beruhigung, es dort zu wissen, wenn die Hand durch die Gitterstäbe schnellt und einen am Nacken packt.
Garamond erwartete uns in einer abgeteilten Besuchskabine und nicht in einem dieser Hochsicherheitskäfige mit Glastrennwand, in denen ein Gespräch nur über Telefon möglich ist.
»Anscheinend führt er sich gut«, sagte ich leise.
Spence räusperte sich. »Man kann es sich auch angenehm machen.«
Jesse Garamond trug einen dieser vertrauten, leuchtend orangefarbenen Overalls, die in der Außenwelt, wo kein Normaler sich je in dieser Farbe erwischen lassen würde, so herrlich unübersehbar sind. Er hatte einige Tattoos mehr als zu der Zeit, als ich ihn das letzte Mal sah, am Tag seiner Verurteilung, als er aus dem Gericht geführt wurde. Seine schütteren Haare waren zu einem zotteligen Pferdeschwanz zusammengebunden, und von einem Ohr baumelte ein Goldring von beachtlicher Größe. Ich fragte mich, warum man ihm den Ring nicht herausgerissen hatte. Sein Mund war unter dem Schnurrbart kaum zu erkennen.
Er lächelte richtig, als er Spence sah. »Mann, allmählich kommen Sie mir vor wie ein Mitglied der Familie.«
»Wie geht’s, Jesse?«
»Ganz okay, kann mich nicht beklagen. Die lassen mich hier größtenteils in Ruhe, weil ich für mich bleibe. Ich schreibe ’nen Roman, wissen Sie, also brauche ich Ruhe. Die anderen Jungs wollen nicht, dass ich was Schlechtes über sie schreibe, deshalb lassen sie mir meinen Freiraum.«
Spence räusperte sich. »Ist ja sehr interessant.«
Jesse ließ sich nicht zum Narren halten. »Und, was ist der Grund dieses unerwarteten Besuchs, nicht, dass ich was gegen Gesellschaft hätte, vor allem, da Sie so anständig sind, eine Dame mitzubringen, die man sich anschauen kann …«
»Detective Dunbar bearbeitet einen Fall, der Ähnlichkeiten mit Ihrem hat, und sie will Ihnen ein paar Fragen stellen«, sagte Spence.
»Echt? Bin ich ein Verdächtiger? Weil, wenn ich es bin, will ich einen Anwalt.«
Er grinste, als er unsere Mienen sah. Ein Goldzahn blitzte in seinem Mund. Er glotzte mich lüstern von oben bis unten an; es war unheimlich und unerwünscht. Dann wurde seine Miene kalt. »Von wegen, sie arbeitet an einem ähnlichen Fall. Sie wollen mich nur dazu bringen, dass ich sage, ich hätte den Jungen abgemurkst, damit Sie besser schlafen können, das ist alles. Mann, verschwenden Sie doch keine Zeit und keine Steuergelder. Ich hab’s nicht getan. Ich habe es Ihnen schon tausendmal gesagt, und ich sage es Ihnen noch einmal. Also sperren Sie die Ohren auf: Ich habe den Jungen nicht umgebracht. Dieses erste Mädchen habe ich mir vorgenommen, ja, aber ich bin kein Kindsmörder. Wie oft soll ich Ihnen das noch sagen? Schämen Sie sich, dass Sie sich mit diesem Blödsinn hinter einem Rock verstecken. Also, warum schaffen Sie Ihren schlaffen Arsch nicht hier raus und finden den Kerl, der es wirklich getan hat, wenn Sie wissen, was ich meine. Tun Sie was Produktives. Verdienen Sie sich meinen Respekt.«
»Mr. Garamond«, warf ich dazwischen.
»Sie können mich Jesse nennen, schöne Frau. Und verschwenden Sie keine Zeit damit, mir Fragen über diese anderen Fälle zu stellen. Ich bin hier drinnen, erinnern Sie sich. Ich kann also gar nichts getan haben. Und gehört habe ich auch nichts.«
»Mr. Garamond«, wiederholte ich, »ich weiß, dass Sie bereits mit Detective Frazee ausführlich über Ihren Fall gesprochen haben, aber ich möchte Sie gern noch einmal befragen. Gibt es irgendetwas, das Sie damals zu erzählen vergessen haben? Ich weiß, dass das eine schwierige Zeit für Sie war. Und ein solcher Stress kann einen vergesslich machen.«
»Ich hab rein gar nichts vergessen. Ich habe Mister Detective alles erzählt, was ich erzählen konnte. Ich war mit der Frau meines Bruders zusammen. Das hat sie Ihnen bestätigt. Jetzt sitze ich für etwas, das ich nicht getan habe, weil ich nicht will, dass es zwischen meinem Bruder und seiner Frau zu Schwierigkeiten kommt.«
»Das ist wirklich bewundernswert«, sagte ich. »Aber es müssen doch bereits Schwierigkeiten zwischen den beiden bestanden haben, wenn Sie Sex mit ihr hatten.«
»Nee«, sagte er. »Ich hab’s ihr ein paarmal besorgt, so als Gefälligkeit, wenn er wegen der Reservistenscheiße, die er macht, ein paar Wochen lang nicht in der Stadt sein konnte. Keine Ahnung warum – aber er lässt seine Alte und die Kinder ganz allein. Sie fühlte sich eben einsam. Ich hab mich einfach an seiner Stelle um sie gekümmert.«
»Sehr brüderlich von Ihnen.«
»Ja. Dafür sollte man mich früher hier rauslassen.«
»Sie haben es doch jetzt schon hier drinnen ganz gut«, sagte Spence. »Als ich das letzte Mal hier war, waren Sie noch in einem dieser Käfige.«
»Es ist nicht so, wie Sie denken«, sagte er. Er sah sich verstohlen um, zur Kontrolle, ob andere Gefangene in Hörweite waren. »Ich hab den Jungs hier drinnen gesagt, dass ich wegen Verletzung der Bewährungsauflagen wieder hier bin. Die meisten dieser Kerle haben doch keine Ahnung, was draußen abgeht. Aber dann kommt dieser Typ wegen Unterschlagung hier rein, und er ist einer, der Zeitung liest. Die meisten der Typen hier drin benutzen Zeitungen nur, um ihre Pitbulls stubenrein zu machen. Aber der liest sie tatsächlich. Und er erkannte mich sofort aus den Zeitungen. Fing an, Geschichten zu erzählen über die Verurteilung und alles.«
»Und?«, fragte ich. »Sie sind doch unschuldig, oder?«
Er kicherte zynisch. »Lady, das sagen sie hier drin alle, das wissen Sie doch. Nur dass es bei mir zufällig die Wahrheit ist. Das Problem ist, jetzt fangen die Jungs an, mich für jemanden zu halten, der ich nicht bin. Das erste Mal wurde ich verknackt, weil ich Sex mit einer Dreizehnjährigen hatte. Das haben sie alle getan, allerdings wurde keiner von denen erwischt. Aber jetzt denken sie, ich hätte ein Kind umgebracht. Wissen Sie, was man mit solchen Typen hier drinnen macht?«
Ich hatte ein paar Gerüchte gehört.
»Sie müssen mir meine Sprache verzeihen, meine Mutter hat mir beigebracht, dass man vor einer Dame nicht so reden darf. Aber Sie müssen es wissen, damit Sie meine Lage hier verstehen: Die machen Wurst aus deinem Schwanz, und dann zwingen sie dich, ihn zu essen.«
Ich sah, wie Spence das Gesicht verzog und die Beine übereinander schlug. Mit dieser Art der Befragung erreichten wir überhaupt nichts. Ich stand auf und sagte: »Nun, ich bin sehr froh über Ihre Offenheit und Ihre Bereitschaft, mit uns zu sprechen, Mr. Garamond. Auch wenn nichts dabei herauskam.«
»He, kein Problem«, sagte er. »Sie können jederzeit wiederkommen. Jederzeit.«
Keiner von uns beiden hatte viel zu sagen, während wir die endlosen Gänge zwischen Besucherbereich und Eingangshalle entlangmarschierten. Die Beleuchtung war gut, die Wände waren in einem freundlichen, gedeckten Weiß gehalten. Alles wirkte einfach und sauber. Die Gitterstäbe waren aus gebürstetem Stahl, ähnlich wie die Handläufe in einem modernen Krankenhaus. Aber eine Sache ließ keine Zweifel offen: Dies war ein Verlies, ganz einfach. Es gab kein natürliches Licht, und wenn jemand nicht wollte, dass wir herauskamen, dann würden wir es auch nicht schaffen.
Kaum hatten wir unsere Waffen zurückerhalten, straffte sich Spence, da er nun wieder die Möglichkeit hatte, jeden zu erschießen, der auch nur daran dachte, aus irgendeinem Teil von ihm Wurst zu machen. Was mich anging, so war ich erleichtert, wieder das Tageslicht zu sehen, als wir durch das Haupttor traten und auf unser Fahrzeug zugingen.
»Na ja, das war wohl Zeitverschwendung«, sagte Spence schließlich.
»Nein, das war es nicht. Ich glaube ihm jetzt ebenfalls. Nur leider bedeutet das, dass ich jetzt wahrscheinlich noch einen Fall zu lösen habe. Ganz zu schweigen davon, dass ein unschuldiger Mann – vielleicht nicht unschuldig, aber auf jeden Fall dieses Verbrechens nicht schuldig – in diesem Gefängnis sitzt. Das ist nicht richtig. Eines Tages werden wir was dagegen unternehmen müssen.«
»Im Augenblick kannst du noch gar nichts sagen, Lany – dieser Kerl wurde von einem Geschworenengericht verurteilt. Und der Staatsanwalt weiß alles über diesen Fall, was ich weiß, über die Schwägerin und alle anderen Details. Ich habe mit meinen Gefühlen in diesem Fall nicht gerade hinter dem Berg gehalten, aber bis jetzt hat niemand irgendetwas unternommen, um dieses Urteil anzufechten.«
»Dann müssen wir mehr Lärm machen. Das ist nicht richtig, Spence.«
»Weiß ich. Aber für uns beide würde es beruflichen Selbstmord bedeuten, wenn wir zu diesem Zeitpunkt irgendwas aufrühren. He, du weißt so gut wie ich, dass dieser Kerl rechtmäßig wegen des Verbrechens verurteilte wurde, das ihn zum ersten Mal ins Gefängnis brachte, und dass er wahrscheinlich gar nicht hätte draußen sein dürfen, als dieser Junge verschleppt wurde. Und glaub ja nicht, er hätte dieses Mädchen nicht gezwungen. Der einzige Grund, warum er nicht wegen Notzucht mit Gewaltanwendung verurteilt wurde, ist, dass er sich des Geschlechtsverkehrs mit einer Minderjährigen schuldig bekannte. Und wenn du den echten Täter findest, wird diese Sache sich schon von selber lösen.«
»Falls ich ihn finde.«
»Das wirst du, Lany. Wie du schon gesagt hast, hast du dieses Bauchgefühl. Ich sehe es dir an. Aber bis dahin musst du diese Sache in Ruhe lassen. Es gibt keine Beweise, die die Aussage des Augenzeugen widerlegen, außer er gibt seine Schwägerin preis. Wir haben also nichts.«
Leider hatte er Recht, und ich wusste es. Demzufolge hatte ich jetzt einen neuen Fall, einen verwirrenden, schwierigen Fall, mit einer Beweislage, die nur aus heißer Luft bestand.